Nils Reiter • Marcus Willand
Ottokar Capulet und Julia Schroffenstein - Liebeskonflikte und Gattungskontexte bei Kleist und Shakespeare
Eingeladener Vortrag am 07.10.2016 im Kleist-Museum, Frankfurt (Oder), im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums während der Kleist-Festtage 2016. Wir untersuchen dramatische Figuren auf der Mikroebene und Gattungszuschreibungen auf der Makroebene.
Inhaltsverzeichnis
- Technische Vorarbeiten
- Ausgangslage
- Mikroanalyse: Figurenrede
- Makroanalyse: Gattungskontexte
- Bibliographie
Technische Vorarbeiten
Grundlage der hier beschriebenen Arbeit sind die Dramen im TextGrid Repository. Diese wurden zunächst in ein Stand-Off-Format überführt (mit unserer Bibliothek DramaNLP). Auf dieser Basis konnten dann die in DKPro Core integrierten Werkzeuge zur Lemmatisierung und zum PoS-Taggen verwendet werden: mate-tools und Stanford PoS-Tagger. Grundlage der Analysen mit R wiederum sind daraus exportierte CSV-Dateien, die die Wörter einzelnen Figuren zuordnen (Romeo und Julia, Die Familie Schroffenstein). Eine schrittweise Anleitung ist hier veröffentlicht.
Ausgangslage
Forschungsproblem
Die literaturwissenschaftliche Forschung hat im Anschluss an die Bemühungen von Meta Corssen (1930) zahlreiche Textmerkmale identifiziert, mit denen der Einfluss von Shakespeares Romeo und Julia auf Kleists Familie Schroffenstein zu belegen versucht wird. Angeführt werden dabei Textelemente oder Texteigenschaften, die sowohl bei Shakespeare als auch bei Kleist nachweisbar sind (Gundolf 1911 unterscheidet, ohne auf Kleist einzugehen, “Shakespeare als Stoff”, “Form” und “Gehalt”). Hierzu zählen unter anderem
- Figuren und Figurentypen wie der Narr (Johann), der Bastard (Jeronimus) und die Hexe (Ursula, Barnabe), aber auch
- Handlungselemente (Kindsmord)
- Handlungsdarstellung (Grausamkeit des Kindsmords) und
- Motive wie das der verbotenen Liebe (Schmidt 2003, 62).
Auch vermeintliche Zitate (direkte ebenso wie indirekte) und Metaphern – wie die Beschreibung des Geliebten als Vogel in der Hand eines Mädchens – werden als Übernahmen Kleists verstanden (hierzu Theisen 1999: 93), aber letztlich muss auch aufgrund der Uneindeutigkeit der spärlichen Hinweise in den wenigen erhaltenen Briefen Kleists (hier, Z. 192 und hier, S. 141) unklar bleiben, welche Stücke Shakespeares Kleist tatsächlich kannte und ob er sie im Original oder einer der Übersetzungen seiner Zeit gelesen hat1.
Forschungsfrage
Im Folgenden möchten wir untersuchen, ob mit den von uns entwickelten Tools zur quantitativen Dramenanalyse der These von dem Einfluss Shakespeares auf Kleist ein weiteres Argument zur Seite gestellt werden kann; dieses Argument bezieht sich auf die Konzeption dramatischer Figurenrede. Unsere Untersuchung möchten wir jedoch nicht als Kritik oder Herausforderung weder der bisherigen Forschungsmeinungen noch der etablierten Praktiken des literaturwissenschaftlichen Lesens und Interpretierens verstanden wissen. Vielmehr soll die durch Digitalisierung ermöglichte Verarbeitung sehr großer Dramen-Korpora eine Neuperspektivierung einzelner dramatischer Texte ermöglichen und dergestalt bisher kaum feststellbare dramenhistorische Einflussbeziehungen offenlegen.
Dieser Form der Makroanalyse stellen wir – ganz im Sinne des scalable readings – Mikroanalysen der dramatischen Texte gegenüber. In diesen werden die Redesemantiken der relevanten und analogen Figuren aus beiden Stücken verglichen. Dabei wird sich zeigen, dass sich ein Einfluss Shakespeares auf Kleist nur eingeschränkt nachweisen lässt: vielmehr scheint seine Figurenkonzeption – bzw. genauer: seine Konzeption der Figurenrede – überhaupt nur als Überlagerung verschiedener dramatischer Strömungen seiner Zeit verstehbar zu sein; hierfür spricht auch die Skepsis Kleists gegenüber einer generisch eindeutigen Festlegung seiner Stücke nach der Penthesilea, also ab etwa 1808 (hierzu u.a. Harms 1990, 18; Breuer 2009, 17; zwar ist aufgrund verschollener Handschriften nicht mehr nachzuweisen, dasss diese Gattungszuordnungen von Kleist kommen, er bezeichnet die drei im Folgenden genannten Texte jedoch in Briefen zw. 1808 und 1811 als “Drama”: hier, hier, hier und hier, hier sogar in Bezug auf “jenes frühere Drama: der Zerbrochne Krug”). Der regen Diskussion darüber, ob die als “Schauspiel” oder “Drama” publizierten Stücke (Käthchen, Hermannsschlacht, Prinz von Homburg) eher der Komödie oder der Tragödie zuzuordnen sind, werden wir ebenfalls ein quantitatives Argument beisteuern. Wir werden zu zeigen versuchen, dass Kleists Entscheidung gegen eine klare Zuordnung offenbar Resultat eines profunden Gattungsbewusstseins ist, das bereits die Komposition seiner Texte beeinflusst.
Mikroanalyse: Figurenrede
Unsere Analysen gehen von der Annahme aus, dass das Zählen von Wörtern in dramatischen Texten zu Einsichten führt, die einer Erstlektüre ebenso wie einer professionellen Interpretation von Texten sekundieren können, indem Informationen solcher Art sichtbar gemacht werden, die durch Linearität und Umfang der Texte für menschliche Leser sonst kaum zugänglich sind. Dass Zählen und Aufzählen jedoch bei Weitem nicht reichen, um Erkenntnisprozeese zu befördern, mag ein kurzer Blick in den 8./9. Band der Reihe “Indices zur deutschen Literatur” (Schanze 1989, 242f.) zeigen:
Wie generell in den Digital Humanities muss sich auch in der Literaturwissenschaft eine den spezifischen Arbeitsweisen der Disziplin angemessene Form der Visualisierung von (größeren) Datensätzen erst noch durchsetzen. Für die Darstellung zweidimensionaler Daten (Figuren vs. aufsummierte Redeanteile) scheinen uns Balkendiagramme am geeignetsten zu sein:
Betrachtet man die in gezeigte interaktive Visualisierung der Redeanteile von Figuren, so zeigt sich, dass das titelgebende Liebespaar in Romeo und Julia mit 10.697 Wörtern fast die Hälfte des Gesamttextes (ca. 25.000 Wörtern) spricht. Ähnlich zentral präsentiert Kleist das Liebespaar in Die Familie Schroffenstein – Agnes und Ottokar – die mit 7730 Wörtern zusammen etwa ein Drittel des Gesamttextes (ca. 23.000 Wörtern) sprechen. Unabhängig davon, dass Agnes’ Vater Sylvester etwas mehr als seine Tochter spricht und damit das Liebespaar nicht wie bei Shakespeare die mit Abstand größten Redeanteile trägt, lässt sich im Vergleich mit anderen Stücken sehr deutlich zeigen, dass Liebeskonflikte nicht zwangsläufig anhand der Liebenden selbst in dramatische Handlung überführt werden müssen. Emilia Galotti etwa, wie Romeo und Julia auch eine titelgebende Figur, steht nur an fünfter Stelle hinsichtlich der Länge ihrer Redeanteile. Sie spricht nicht einmal halb so viel wie Marinelli und der Prinz. Bei der Analyse der dramatischen Darstellung von Liebeskonflikten scheinen offensichtlich die Kategorien Aktivität und Passivität von Figuren relevant zu sein. Sie lassen sich sehr einfach analysieren und visualisieren, geben aber dennoch ausgesprochen deutliche Hinweise auf den Grad der Beteiligung einer Figur bei der dramatischen Aushandlung von Konflikten: Löst sie oder löst sie aus?
Variation der Äußerungslänge
Nicht nur die Anteile der Rede einer Figur in Bezug auf den Gesamttext, sondern auch die Variation der Länge ihrer Einzeläußerungen kann Hinweise auf die Funktion einer dramatischen Figur geben. Im Folgenden verwenden wir für die Visualisierung der Verteilung des Merkmals “Äußerungslänge” Boxplots. Der Analyse der Grafiken liegt die Annahme zugrunde, dass Figuren mit vielen langen Äußerungen wichtige Figuren in Bezug auf den dramatischen Konflikt und die dramatische Handlung sind. Dies wurde in Ansätzen bereits von der literaturwissenschaftlichen Forschung versucht zu berücksichtigen, etwa in Arbeiten zu der Frage, welche Bedeutung (die längsten) Monologe in Dramentexten haben (Leo 1908; Lott 1909; Grussendorf 1914; Huersch 1947; Clemen 1964).
Die angezeigten Boxen beinhalten die mittleren 50% der Daten, was in diesem Fall bedeutet, dass unter den Boxen das Viertel der kürzeren Äußerungen und über den Boxen das Viertel der längeren Äußerungen liegt. Die farbigen Punkte repräsentieren besonders lange Äußerungen (Ausreißer). Dass die angezeigten Boxen jeweils kurz über Null beginnen, lässt sich damit erklären, dass es kaum eine Figur im dramatischen Texten gibt, die nicht irgendwann einmal in Ein-Satz-Antworten auf andere Figuren reagiert. Benvolio (ganz links) und Graf Paris etwa replizieren jedoch fast ausschließlich in sehr kurzen Äußerungen (flache Box, niedriger Median, kaum Ausreißer). Figuren dieser Art sind in der Regel nicht in solchen Szenen präsent, in denen zentrale Elemente des dramatischen Konfliktes ausgehandelt werden.
Bruder Lorenzo hingegen (zweiter von links) ist offensichtlich sehr wenig in Gesprächssituationen involviert, in denen kurze Antworten genügen: Der Median liegt höher und seine Äußerungen beinhalten viele Ausreißer. Auffällig ist, dass Romeos und Julias Verteilung der Redelängen sehr ähnlich ist; der etwas höhere Median bei Julia zeigt an, dass sie etwas seltener als Romeo in kürzeren Äußerungen spricht; das macht sie überwiegend dann, wenn sie mit ihren Eltern co-präsent ist.
Es deutet vieles darauf hin, dass die Äußerungslänge u.a. ein Marker für die Reflexionskraft von Figuren ist; sie kann allerdings auch auf andere Figureneigenschaften hinweisen, etwa die rauschhafte Verliebtheit von Romeo und Julia.
Insgesamt zeigt sich, dass die Längenvarianz der Figurenrede in Romeo und Julia sehr groß ist (mal viele, mal wenige Ausreißer, unterschiedlich hohe Boxen und Mediane). Dieser Befund bestätigt das Bild von einer diversen, variantenreichen Dramenkonzeption Shakespeares.
Vergleicht man hierzu die Äußerungslängen in der Familie Schroffenstein (), so zeigt sich das konträre Bild einer sehr geringen Varianz. Kleist reguliert die Redelänge seiner Figuren offensichtlich viel stärker; dies kann – so unsere These – zurückgeführt werden auf eine Veränderung der Dramenkonventionen durch Lessing hin zu einer Annäherung an die Alltagssprache, in der weniger monologisiert wird als noch im Barock- und Aufklärungsdrama (zur bewussten Künstlichkeit ,natürlicher’ Dialoge im Drama siehe u.a. Berghahn 1970 u. Zimmer 1982). Obgleich die Kleist’schen Syntaxen dieser Beobachtung nicht so sehr entsprechen, die quantitativen Analysen deuten darauf hin.
Thematische Analyse der Figurenrede
Natürlich sind wir eigentlich nicht – bzw. nicht nur – daran interessiert, wer wie viel spricht. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich zwar Zusammenhänge von Figurentyp und Quantität der Figurenrede annehmen, aber der Einsatz computerlinguistischer Verfahren erlaubt es uns auch die Inhalte und Semantiken dieser Rede strukturiert darzustellen. Wir zielen also ab auf eine Beantwortung der Frage, worüber wird eigentlich gesprochen?
Grundsätzlich gehen wir von der Annahme aus, dass Worte und Themen sich gegenseitig bedingen. Man kann nicht über bestimmte Themen sprechen ohne bestimmte, semantisch verwandte Wörter zu verwenden. Umgedreht heißt das, dass die Verwendung bestimmter Wörter Rückschlüsse auf die verhandelten Themen erlaubt. Natürlich gibt es eindeutiges Entsprechungsverhältnis zwischen Themen und Wörtern, da Wörter ambig sind. Ein Beispiel, das sich hier im Kontext dieses Kolloquiums im Kleist-Museum aufdrängt, ist Frankfurt, das für verschiedene Städte und Orte stehen kann.
You shall know a word by the company it keeps.
Firth folgend machen wir es uns zunutze, dass der Kontext von Wörtern uns sehr viel über sie verrät. In einem Text über Frankfurt (Oder) tauchen andere Wörter mit anderen Häufigkeiten auf als in einem Text über Frankfurt am Main, unabhängig vom konkreten Thema dieses Textes. Es stimmt zwar, dass Wörter ambig sind – das gilt aber vor allem für Einzelwörter. Betrachtet man größere Gruppen von Wörtern, disambiguieren sie sich gewissermaßen gegenseitig.
Diese Eigenschaft von Texten bildet die linguistische Grundlage unserer Wortfeldanalysen. Um Wortfelder zu generieren, haben wir (für diesen Anlass erst einmal manuell; automatisierte Verfahren sind geplant) Wörterbücher zu fünf Themen erstellt, die uns für eine Analyse der Familie Schroffenstein relevant erscheinen: Familie, Krieg, Liebe, Ratio und Religion. Sie sind hier im Volltext verlinkt, in jedem Wortfeld finden sich zwischen 70 und 90 Wörter.
Die Wörter aus diesen Wortfeldern wurden dann in der Figurenrede von Romeo und Julia und Die Familie Schroffenstein gezählt, separat für jede Figur (normalisiert und eingeschränkt auf Nomen, Verben und Adjektive). Daraus lässt sich eine thematische Tendenz jeder Figurenrede ermitteln.
Wie in zu sehen ist, sprechen Romeo und Julia beide vor allem über Liebe. Julias Eltern hingegen, Graf und Gräfin Capulet, verwenden vor allem Wörter aus dem Bereich der Familie (zur Ansicht bitte auf die Namen unter der Grafik klicken). Julia spricht etwas mehr als Romeo in Familiensemantiken, da sie mit ihren Eltern co-präsent ist und insbesondere mit ihrer Mutter die (ihr später leidigen) Angelegenheiten in Sachen Graf Paris zu besprechen hat:
Gräfin Capulet: Wie steht’s mit deiner Lust, dich zu vermählen?
Auch die anderen Figuren des Stücks verhalten sich erwartbar bezüglich des thematischen Musters ihrer Rede. Der Raufbold Tybalt etwa spricht überwiegend in Kriegssemantiken. Interessant ist die Beobachtung, dass die Amme als einfache Figur stärker als der Klosterbruder in religiösen Semantiken spricht. Dies lässt sich einerseits mit ihre Exklamationen erklären: “Gott behüte”; “bei meiner Seele!”, “Nu, weiß Gott”. Andererseits stellt auch hier die bei Julia schon angesprochene Co-Präsenz anderer Figuren einen großen Einflussfaktor auf die Semantiken der Figurenrede dar. Bruder Lorenzo tritt fast ausschließlich dann auf, wenn Romeo und Julia präsent sind. Entsprechend viel spricht er über deren Thema: Liebe.
Aktiviert man in der obigen Abbildung einmal diejenigen Figuren, die für bestimmte Konflikte des Dramas stehen (etwa Romeo=Liebe, Capulet=Familie, Amme=Vermittlung, Tybalt=Streit), so zeigt sich, dass die einzelnen Muster der Figurenrede stark divergieren. Dies klingt wenig überraschend, ein so klares Repräsentationsverhältnis von Figurentypus zu Redesemantik findet sich allerdings nicht in allen dramatischen Texten. Insbesondere für die Zeit ab 1770 lässt sich hier eine bemerkenswerte Ausdifferenzierung beobachten.
Zeitgenössische Einflüsse auf Kleist
Die überlieferten Briefe Kleists lassen die Annahme zu, dass ihr Schreiber die zeitgenössische Dramenproduktion durchaus verfolgte und daher muss diese auch als möglicher Einfluss der Familie Schroffenstein berücksichtigt werden. So wurde Kleist immer wieder im Einflussbereich Schillers gelesen – bishin zur “Zwangsfixierung” bei der Konzeption der Familie Schroffenstein (Reinhardt 1988/89, 204). Wir haben uns entschieden, Vergleichsanalysen anhand der Stücke des Genres Bürgerliches Trauerspiel und denen der Strömung Sturm und Drang durchzuführen. Die folgenden Abbildungen zeigen Stücke aus den Vergleichsgruppen, jeweils durch ein Drama Schillers und anderer Autoren vertreten (nach links wischen, um weitere Stücke zu sehen):
Bürgerliches Trauerspiel
Sturm und Drang
Vergleicht man die abgebildeten Stücke des Bürgerlichen Trauerspiels (Abb. 6-8) mit denen des Sturm und Drang (Abb. 9 und 10), so zeigt sich auf den ersten Blick, dass die Muster der Figurenrede im Bürgerlichen Trauerspiel konvergieren und die Muster der Figurenrede im Sturm und Drang divergieren. Im Bürgerlichen Trauerspiel scheinen Figuren nicht wie bei Shakespeare (und im Sturm und Drang) individuelle Ideen oder spezifische Positionen in Bezug auf dramatische Konflikte zu repräsentieren. Vielmehr verteilen sich die Figuren sehr homogen hinsichtlich der Semantiken, d.h. alle Figuren sprechen ähnlich oft über die gleichen Themen. Das lässt auf eine völlig andere Form der Darstellung und Lösung dramatischer Konflikte schließen als es im Sturm und Drang der Fall ist.
Es ist keine neue Beobachtung, dass sich Autoren dieser Strömung unisono auf Shakespeare als zentrale Bezugsgröße beziehen. Viele von ihnen haben das in ihren dramenpoetologischen Schriften explizit betont. So u.a.:
- 1766/67: Gerstenberg: Briefe über Merckwürdigkeiten der Litteratur
- 1771: Goethe: Rede zum Schäkespears Tag
- 1773: Herder: Von deutscher Art und Kunst
- 1774: Lenz: Anmerkungen übers Theater
- 1809–1811: A. W. Schlegel: Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur
Neu ist allerdings der Fund, dass sich dieser Einfluss auch auf die Semantiken der Figurenrede bezieht. Wir möchten nicht darüber spekulieren, ob dies Ergebnis einer bewussten oder unbewussten Imitation ist. Beide Annahmen würden zu der These führen, dass Autoren die semantische Gestaltung der Rede ihrer Figuren auf die ein oder andere Weise regulieren. Vorerst scheint uns eine moderatere Erklärung unseres Fundes treffender. Sie erklärt die Ähnlichkeit der semantischen Muster als Ergebnis spezifischer Konzeptionen der dramatischen Konfliktlösung.
Kleists Figuren
Von den verfeindeten Schroffensteins aus dem Hause Rossitz und Warwand sollen im Folgenden erst einmal die Eltern Ottokars – also dem Pendant Romeos – analysiert werden. Die folgende Abbildung lässt erkennen, dass die Gemahlin Eustache deutlich stärker als ihr Mann Rupert in den Semantiken von Religion, Familie und Liebe spricht, dieser dafür eher Kriegs- oder Kampfsemantiken aufruft. Nimmt man nun die Eltern von Agnes – der analogen Figur Julias – hinzu, so zeigt sich, dass die Rede dieser Figuren (Silvester und Gertrude), dem Muster der Figurenrede von Rupert und Eustache nahezu abbildgetreu entsprechen; wobei Gertrude wie ihre Geschlechtsgenossin und Stiefschwester Eustache überwiegend in den Semantiken von Religion und Familie spricht; weniger jedoch in denen der Liebe und gar nicht in denen der Vernunft. Das lässt sich mit ihrer Einstellung zu der Familienfehde erklären: Während ihr Gemahl Silvester besonnen und rational auf die Anfeindungen durch Rupert reagiert, ist sie hingegen recht schnell von ihren eigenen Kurzschlüssen über die vermeintlichen Vergehen der Rossitzer überzeugt. Eustache hingegen ist hinsichtlich dieser Eigenschaften konträr konzipiert.
Nimmt man auch noch Barnabe hinzu – die Tochter der Totengräberwitwe, die als Shakespeare’sche Hexe gelesen wird – so zeigt sich, dass auch ihre Redesemantiken mit denen ihrer Geschlechtsgenossinnen (insb. mit Getrudes) konvergiert. Dies ist bemerkenswert, da so ausgeschlossen werden kann, dass der innerfiktional ausgezeichnete soziale Stand eine Rolle für die Semantisierung der Figurenrede durch Kleist spielt. Vielmehr scheint Kleist seine Figuren nicht (oder nicht nur) wie Shakespeare als Repräsentanten bestimmter Konflikte zu konzipieren, sondern vor allem auch als Vertreter ihres Geschlechts. Mit den Äußerungen Kleists in seinem Brief an Marie von Kleist vom Spätherbst 1807 (Seiten 1, 2 und 3) lässt sich diese Annahme dahingehend stützen, dass Kleist offensichtlich “Geschlecht” als relevante, wenn nicht sogar eine der zentralen poetologischen Kategorien seines Schaffens verstand. Über sein Stück Penthesilea schreibt er:
14 Für Frauen scheint es im Durchschnitt
15 weniger gemacht als für Männer, und auch unter den
16 Männern kann es nur ein[e]r Auswahl gefallen
17 Pfuëls krieg[e]risches Gemüth ist es eigentlich auf
18 das es durch und durch berechnet ist
[…]
31 Wenn man es recht unter sucht, so sind zuletzt d[i]e
32 Frauen an d[e]m ganzen Verfall unsrer Bühne schuld
33 u[nd] sie sollten entw[e]d[er] gar nicht ins Schauspiel
34 gehen, oder es müßt[e]n eigne Bühnen für sie,
35 abgesondert von den Männern errichtet w[er]den. Ihre
36 Anfo[r]derungen an Sittlichkeit u[nd] Moral vernicht[e]n
37 das ganze Wesen d[e]s Drama, u[nd] niemals hätte
38 s[i]ch d[a]s Wesen d[e]s griechisch[e]n Theaters entwi[c]kelt,
39 wenn sie nicht ganz d[a]von ausgeschloßen gew[e]sen
40 wär[e]n.
– Brief an Marie von Kleist vom Spätherbst 1807
Die poetologische These, dass die ausschließlich Frauen zugeschriebenen Anforderungen an Sittlichkeit und Moral zumindest das für Kleist zeitgenössische Theater hinsichtlich seines Wesens verändern würden, muss an dieser Stelle nicht dramenhistorisch erläutert werden, um ihre Bedeutung für unsere Argumentation zu verdeutlichen: Einem Autor, der theaterhistorische Verfallsthesen mit vermeintlichen Sittlichkeitsanforderungen des weiblichen Geschlechts begründet, lässt sich ohne weiteres – und mehr möchten wir an dieser Stelle gar nicht behaupten – die Annahme von Geschlechterunterschieden und damit eine Figurenkonzeption unterstellen, für die “Geschlecht” eine relevante Kategorie der Textproduktion ist; und damit wird sie es für die Interpretation unserer Analyseergebnisse! Angesichts dieser Beobachtungen haben also die spezifischen Muster der Figurenreden von Agnes und Ottokar potentiell hohen interpretativen Wert. Agnes spricht in den Semantiken der Männer und Ottokar scheint eine Art Mischform zwischen weiblichem und männlichem Reden darzustellen (wenn man sowohl die Stärke des Ausschlags in einzelne Wortfelder als auch das Muster der Verteilung auf alle Wortfelder berücksichtigt).
Vor dem Hintergrund der chiastischen Struktur, nach dem Kleist seinen Text konzipiert hat, bekommt dieser Fund eine besondere Reichweite für die Textinterpretation: Agnes wird am Ende des Textes von Ottokar in dessen Mantel gekleidet, um sie vor seinem herannahenden Vater zu schützen. Dieser soll denken, Agnes sei sein eigener Sohn. Im Gegenzug zieht Ottokar Agnes’ Kleidung an, wird dann aber von seinem eigenen Vater in dem Glauben getötet, tatsächlich die Tochter der verfeindeten Warwands zu sein. Agnes wiederum wird von dem später auftretenden Silvester für Ottokar gehalten und ebenfalls erstochen. Der Fund einer geschlechtskonträren Semantisierung der Rede von Agnes und Ottokar entspricht der finalen und letztlich tragischen äußeren Identifikation des Liebespaares mit dem jeweils anderen.
Ergebnisse der Mikroanalyse
Der Vergleich der exemplarischen Mikroanalysen legt für uns nahe, dass Kleist sich im Mittelfeld möglicher Einflüsse seiner Zeit bewegt. Die Familie Schroffenstein ist hinsichtlich der Figurenrede nicht so divers wie Romeo und Julia und die Stücke des Sturm und Drang. Die Figuren der Kleist’schen Tragödie konvergieren aber auch weniger als die Dramen des offensichtlich stark konventionalisierten Bürgerlichen Trauerspiels.
Makroanalyse: Gattungskontexte
Wie bereits oben angedeutet scheint Kleist ab 1806 das dualistische Gattungskonzept endgültig überwunden zu haben und sich gegen eine eindeutige generische Festlegung seiner Stücke zu weigern – dies verraten bereits die Titelseiten seiner Stücke: Ein großes historisches Ritterschauspiel, Ein Drama, Ein Schauspiel. Im Lichte dieser Beobachtung hat die Forschung immer wieder die Familie Schroffenstein hinsichtlich ihrer Gattungszugehörigkeit zu beleuchten versucht und ihr u.a. ,Zwiespältigkeit’ attestiert (Harms 1990, 18). Im Folgenden wollen wir zeigen, dass quantitative Analysen auch hinsichtlich der Beantwortung von Gattungsfragen uneindeutiger Texte neue und durchaus gewichtige Argumente in die literaturwissenschaftliche Diskussion einführen können.
Stilometrische Analysen
Eines der Standardverfahren zur quantitativen Analyse von Gattungen kommt aus dem Bereich des Clusterings und wird im Moment vor allem zu stilometrischen Analysen verwendet. Dabei schauen wir auf die Häufigkeit von Wörtern oder Wortformen und erstellen sog. Wortvektoren.
Diese Wortvektoren können im n-dimensionalen Raum räumlich interpretiert werden und entsprechende geometrische Distanzmaße angewendet werden. Diese numerische Distanz erlaubt eine (hierarchische) Gruppierung der Texte nach Ähnlichkeiten in der Worthäufigkeit. Zunächst werden dabei die ähnlichsten Texte gruppiert, dann etwas weniger ähnliche Texte dazugenommen (s.a. Hierarchische Clusteranalyse).
Dieses Verfahren (auch implementiert im R-Paket stylo) haben wir auf 95 Tragödien und 86 Komödien angewendet (Tabelle 4). Abbildung 11 – hierzu die Tabelle nach links wischen – zeigt einen Ausriss, das vollständige Dendrogram kann hier als PDF heruntergeladen werden. In beiden Fällen sind Tragödien grün gekennzeichnet und Komödien blau.
Die Einteilung entlang von Wortfrequenzen funktioniert zwar nicht perfekt, aber doch erstaunlich gut. Tragödien werden überwiegend in der oberen Hälfte gruppiert, Komödien in der unteren. Das Autorsignal ist in einzelnen Fällen zwar noch sehr stark (sprich: Stücke der gleichen Autoren werden zusammen gruppiert), aber auch nicht immer (vgl. Jannidis 2014). Die Dramen von Goethe z.B. erscheinen zwar innerhalb der Gattung als Blöcke. Solche Blöcke finden sich allerdings mehrere.
Wir nehmen diesen Befund zum Anlass, uns an einer Gattungseinteilung von Kleist-Dramen zu versuchen. Dazu extrahieren wir die Lemmata der Nomen, Verben und Adjektive, die in mindestens 20 Texten vorkommen und berechnen die Korrelation mit Tragödie bzw. Komödie mit dem Spearman-Korrelationsmaß (Spearman, 1904). zeigt die 50 am stärksten korrelierenden Lemmata für die beiden Klassen (Komödie, Tragödie).
Komödie | Tragödie |
---|---|
gut, frauenzimmer, machen, sagen, herr, verstehen, wissen, sache, leute, lieber, hübsch, dumm, fein, bekommen, nehmen, richtig, zufrieden, gehen, gewiß, setzen, merken, ankommen, einfall, wahrhaftig, vernünftig, frau, anfangen, glauben, liebenswürdig, übel, person, artig, ganz, ursache, tisch, vortrefflich, gelegenheit, angenehm, woche, anderer, weiß, denken, vornehm, gehören, geschwind, kriegen, empfehlen, holen, wahr, vergnügen | abgrund, haupt, aug, mörder, brust, tod, blut, lebend, fluch, mord, heil, antlitz, beugen, schmach, empor, erde, stürzen, schrecken, staub, fels, grab, flamme, macht, leiche, dunkel, retten, sturm, glut, glied, beben, schwert, sterbend, sonne, geschehn, waffe, senden, heer, brechen, angesicht, strom, schatten, knabe, opfer, lager, frevel, mächtig, kraft, tief, fern, dumpf |
Gattungsklassifikation
Im nächsten Schritt haben wir gezählt, wie oft diese Wörter in den Dramen von Kleist auftauchen und können uns damit auf Basis der Worthäufigkeiten an einer Gattungseinordnung versuchen.
Wie in zu sehen ist, sind einige Dramen sehr deutlich einer Gattung zuzuordnen. Im zerbrochenen Krug werden überwiegend Wörter verwendet die stark mit Komödien korrelieren, was mit der Gattungsauszeichnung auf dem Titel übereinstimmt. Penthesilea hingegen wird auf dem Titel der Erstausgabe als Trauerspiel bezeichnet, trägt aber durchaus auch komische Züge, wenn man die die Worthäufigkeit als Maß nimmt. Am wenigsten eindeutig lassen sich Die Hermannsschlacht sowie Prinz Friedrich von Homburg einer der Großgattungen zuordnen – dabei handelt es sich just um die Dramen, denen auch Kleist eine klare Zuordnung verwehrt, in dem er sie als “Drama” oder “Schauspiel” untertitelt. Diese Befunde der Makroanalysen deuten auf ein ausgesprochen hohes Gattungsbewusstsein Kleists hin, die Befunde der Mikroanalysen auf ein entsprechendes Bewusstsein hinsichtlich des Geschlechts seiner Figuren.
Bibliographie
- Berghahn, Klaus L. (1970). Formen der Dialogführung in Schillers klassischen Dramen. Ein Beitrag zur Poetik des Dramas. Münstersche Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft. Band 5. Münster.
- Breuer, Ingo (2009): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler.
- Clemen, Wolfgang (1964). Shakespeares Monologe. Kleine Vandenhoeck-Reihe. 198/199. Göttingen.
- Corssen, Meta (1930). Kleist und Shakespeare. Weimar.
- Dunz-Wolff, Günter: http://kleist-digital.de/. Digitale, textkritische Edition sämlicher Werke und Briefe von Kleist (im Entstehen).
- Grussendorf, Hermann (1914). Der Monolog in Drama des Sturms und Drangs [Diss.]. München.
- Gundolf, Friedrich (1911). Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin.
- Harms, Ingeborg (1990). Zwei Spiele Kleists um Trauer und Lust. “Die Familie Schroffenstein” und “Der zerbrochne Krug”. München.
- Huersch, Irmgard (1947). Der Monolog im deutschen Drama von Lessing bis Hebbel. Winterthur.
- Jannidis, Fotis: Der Autor ganz nah – Autorstil in Stilistik und Stilometrie. In Matthias Schaffrick und Marcus Willand (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin: de Gruyter 2014, 169-195.
- Leo, Friedrich (1908). Der Monolog im Drama. Ein Beitrag zur griechisch-römischen Poetik. Berlin.
- Lott, Bernhard (1909). Der Monolog im englischen Drama vor Shakespeare [Diss.]. Greifswald.
- Reinhardt, Hartmut (1988/89): Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption bei Heinrich Kleist. Kleist-Jahrbuch: 198-218
- Schabert, Ina (Hg.) (2009):Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. (5., durchges. und erg. Aufl.) Stuttgart.
- Schanze, Helmut (2., völlig neu bearb. Aufl.1989). Wörterbuch zu Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen, Anekdoten und kleine Schriften. Indices zur deutschen Literatur. Bd. 20. Tübingen.
- Schmidt, Jochen (2003): Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt.
- Spearman, Charles (1904): “The proof and measurement of association between two things”. American Journal of Psychology. 15: 72–101.
- Theisen, Bianca (1999): „Der Bewunderer Shakespears. Kleists Skeptizismus“. Kleist-Jahrbuch: 87–108.
- Zimmer, Reinhold (1982). Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext Dialogformen in deutschen Dramen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Palaestra. Göttingen.
-
Am prominentesten waren die von Wieland aus den 1760ern, die von Eschenburg aus den 1770ern und die in den 1790ern begonnenen von Schlegel/Tieck; siehe hierzu u.a. Schabert (2009), S. 821-842. ↩